Beschluss des Diskussionstages des 20. Mai 2023
Awareness ist für uns nichts, was nur ein Team macht, sondern eine Gesamtgruppenaufgabe. Das Ziel ist, dass alle Mitglieder der Gruppe Verantwortung für eigenes Handeln übernehmen und einschreiten und bei Bedarf unterstützen, wenn ein Gruppenmitglied Gewalt oder Diskriminierung erfährt. Eine sozialistische Organisation darf kein Ort sein, an dem Gewalt totgeschwiegen wird. Sie sollte auch keine Gerüchteküche sein.
Solange wir uns als Organisation noch nicht dazu in der Lage fühlen, diese Arbeit alle zu übernehmen, braucht es ein Awareness-Team. Das Awareness-Team unterstützt Betroffene in Fällen von Diskriminierung und Gewalt.
Wir arbeiten mit Parteilichkeit, um auf strukturelle Unterdrückungserfahrungen Rücksicht zu nehmen. Unsere Awarenessarbeit geht von den Wahrnehmungen und Bedürfnissen der Betroffenen aus. Wir arbeiten nicht mit Definitionsmacht, erkennen aber an, warum sie historisch in bestimmten Umständen ein Fortschritt war. Das heißt, dass wir nicht davon ausgehen, dass Gewalterfahrungen objektiv definiert werden können, wie es in Konzepten der Definitionsmacht vorausgesetzt wird.
Vor allem in Situationen, in denen Angeschuldigte:r und Betroffene:r unterschiedlichen Unterdrückungsformen ausgesetzt sind, ist schwer, eine eindeutig alleinig betroffene Person auszumachen. Wenn das schwer ist, ist schwer, nur eine “Definition” für legitim zu erklären und mit Definitionsmacht zu arbeiten. Die Anforderung, für eine schlimme Situation immer eine Definition zu formulieren (also die Erfahrung auf einen Begriff zu bringen), kann, insbesondere dann, wenn davon auch Konsequenzen abhängen, auch in zusätzlichem Druck auf Betroffene und einem schlechten und unvertraulichen Umgang mit ihren konkreten Empfindungen resultierten.
Bei Diskriminierung ist das Awarenessteam zuständig, wenn es personalisierte Diskriminierung gegen eine spezifische Person gab. Bei allgemeinen politischen Äußerungen ohne konkreten Personenbezug, die als diskriminierend/problematisch betrachtet werden, kann das Awarenessteam Punkte ins Aktiventreffen tragen, falls jemand das nicht selbst ins Aktiventreffen tragen will, aber es findet kein Verfahren durch das Awarenessteam mit den Maßnahmen des Awarenessteams statt.
Bei Übergriffen im Gruppenkontext ist Handlungsimperativ immer gegeben. Grundsätzlich handelt das Awarenessteam tendenziell reaktiv auf Ansprache durch Betroffene, wenn aber durch externe Quellen Kenntnis von mehrfachen sexuellen Übergriffen vorliegt, ist auch ohne konkreten Betroffenenkontakt ein Handlungsimperativ gegeben. Generell ist proaktives Handeln bei sexuellen Übergriffen aus Betroffenenschutz-Sicht stärker sinnvoll als bei Diskriminierung.
In Awarenessprozessen gibt es immer am Anfang ein Gespräch mit der beschuldigten Person, in dem noch keine Konsequenzen kommuniziert werden. Zusätzlich wird jede Kommunikation von Konsequenzen nicht auf das Benennen der Konsequenzen beschränkt, sondern erläutert. Bei der Rekonstruktion von Situationen sind wir parteilich und kehren die Beweislast um, holen aber auch die Wahrnehmung der beschuldigten Person ein. Es ist im Kontext von Awarnessgesprächen mit Betroffenen nötig, dass Rahmendaten (Kontext, spezifischer Vorwurf, Zeitpunkt, Ort) geklärt werden. Erläuterungen über die genaue Tat werden nicht verlangt, Betroffenen soll aber ein Rahmen gegeben werden, in dem sie sich sicher fühlen können, über die Tat zu reden. Material, welches das vereinfacht, wird erarbeitet.
Als Awareness-Team kann es Sinn ergeben, “Zeug:innen” oder Vertraute von Betroffenen zu konsultieren und in Prozesse miteinzubeziehen.
Bei komplexen Fällen mit gegenseitigen Vorwürfen unterscheiden wir zwei Szenarien. Wenn die Vorwürfe verflochten sind und ungefähr symmetrisch erscheinen, behalten wir uns die Option vor, statt Awarenessmethoden Mediationsmethoden zu verwenden. Wenn die Vorwürfe nicht eng zusammenhängen oder von deutlich unterschiedlicher Tragweite erscheinen, behandeln wir die Vorwürfe und potentielle Konsequenzen in getrennten Fällen.
Das Awareness-Team wägt unter besonderer Berücksichtigung der Wahrnehmung der Betroffenen die Konsequenzen für gewaltausübende oder diskriminierende Personen ab.
Das Awareness-Team hat das Mandat, in nach eigener Einschätzung dringenden Fällen, Menschen bis zur nächsten Mitgliederversammlung von den Veranstaltungen auszuschließen. Ausschlüsse werden dann auf der Mitgliederversammlung beschlossen.
In Fällen von uns bekannter mehrfacher schwerer sexueller, physischer oder psychischer Gewalt schließen wir auch dann aus, wenn keine konkrete Forderung einer Betroffenen vorliegt.
Wir anonymisieren – vor allem Daten über Betroffene:
Ausschlüsse werden weiterhin auf der Mitgliederversammlung beschlossen. Dabei wird auch Name und grober Anlass des Ausschlusses protokolliert.
Gruppenmitglieder außerhalb des Awareness-Teams haben prinzipiell das Recht, eigene Erlebnisse und Situationen, die man mitbekommen hat, mit anderen Menschen zu teilen. Im konkreten Fall kann es aber Sinn machen, Verbandsgossip einzudämmen und Leute zu bitten, nicht Sachen aus zweiter Hand weiterzuerzählen.
Das Awarenessteam darf und soll sagen, wenn etwas NICHT passiert ist und rumerzählt wird.
Weil wir Awareness als Gesamtgruppen-Aufgabe verstehen, sollte die Gesamtgruppe auch darüber informiert sein, ob das Awareness-Team gearbeitet hat und in etwa, wie oft. Deshalb gibt es einen Rechenschaftsbericht des Awarenessteams am Ende des Jahres mit Zahl von bearbeiteten Fällen, Statistik über Konsequenzen und grober Kategorisierung von Vorfällen. Bei unter 5 Fällen gibt es keine Infos bzgl. Konsequenzen und Kategorien. Auch bei mehr Fällen soll nicht mit konkreten Zahlen gearbeitet werden, sondern mit Angaben wie “Die meisten Fälle” oder “Die überwiegende Mehrheit der Fälle” usw.